Texte
Das liebe Geld
(Autor ist der Redaktion bekannt)
Der folgende Text ist fiktiv, Personen und Orte sind frei erfunden, eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Es ist Mitte Mai 2017. In Flachheim ist eine Sitzung anberaumt, kein Geringerer als Herr Stüberl persönlich hat eingeladen und wird auch heute den Vorsitz führen. Die Sitzung hat schon begonnen, den Anfang haben wir gar nicht mitbekommen, aber jetzt, genau jetzt muss der Betrachter feststellen: es herrscht dicke Luft.
Der Vorstand dieses Vereins mit Sitz in Flachheim hat nämlich ein großes Problem. Erst vor einem guten Jahr wurde der Verein ins Register eingetragen, damals herrschte noch eitel Freude und Sonnenschein. Schließlich hatte man ohne Probleme genug Freiwillige gefunden, die bereit gewesen waren, ein Amt im Vorstand zu übernehmen. Genauer gesagt, es wurde einfach die nähere Verwandschaft und Bekanntschaft von Herrn Stüberl in den Vorstand gewählt.
Der Zweck des Vereins ist, auch heute noch, Spenden einzusammeln für die früheren Heimkinder im viele hundert Kilometer entfernten Kronberg. Wieso das ganze nun in Flachheim stattfinden muss, ist schnell erklärt: dort wohnt Dieter Z., der Bedürftigste dieser früheren Heimkinder, zumindest schätzt er selbst dies so ein. Und Dieter Z. wohnt nicht irgendwo in Flachheim, nein, der Zufall will es: er wohnt im Hause von Herrn Stüberl.
Das musste erzählt werden, um den weiteren Verlauf unserer Flachheimer Vorstandssitzung verstehen zu können.
Ein älterer Herr, dessen Namen wir verschweigen wollen, ergreift das Wort: "Also so geht das nicht, liebe Freunde, so geht das nicht. Wisst Ihr eigentlich, was für mich auf dem Spiel steht?" Er blickt grimmig in die Runde, wartet aber eine Antwort auf seine Frage gar nicht ab. "Du hast mich überredet", er blickt Herrn Stüberl an, "ja Du, hier das Amt des Finanzverwalters zu übernehmen, weil ich doch was von Zahlen verstehe. Und jetzt sitze ich hier in der Tinte."
Einen Moment herrscht Schweigen. Frau Stüberl ergreift das Wort: "Also ich verstehe nicht, was Du uns sagen willst. Wir machen doch heute nur den Jahresabschluss, dann kommt noch der Rechnungsprüfer und fertig. Über was hast Du Dich nun schon wieder geärgert?"
"Schon wieder, schon wieder, natürlich, immer dasselbe." Der Finanzverwalter ist jetzt noch zorniger. "Wie soll ich einen Jahresabschluss machen, wenn ich keine Belege habe? Hä? Wie? Soll ich was erfinden oder mir selber die Belege schreiben? Ihr wisst alle, dass ich in meinem Beruf jeden Tag mit Rechnungsabschlüssen zu tun habe. Wenn das hier schief geht, dann steht mein Ruf auf dem Spiel. Wenn das irgend jemand spitz kriegt und der Zeitung steckt, ich will gar nicht daran denken."
Frau Stüberl blickt fragend ihren Mann an. Der wiegt den Kopf und stottert: "Ja, also gut, nun, ich habe Dir ja auch nicht alles erzählt. Also, was unser Zahlenmensch hier meint, ist ganz einfach, also, ich fang mal woanders an."
"Es ist so, dass ich" . . . Herr Stüberl kratzt sich am Oberstüberl . . . "dass ich dem Dieter 'ne Kontovollmacht gegeben habe, und er hat wohl regen Gebrauch davon gemacht. Ich habe ihn immer wieder darauf angesprochen, dass er das so und in diesem Umfang nicht machen kann, aber er hat mich immer wieder beruhigt. Keine Sorge, hat er gesagt, kommt alles wieder herein, der Gerber wird dafür sorgen. Das hat mich zunächst beruhigt, Ihr wisst ja alle, wo der Gerber ist, da sind die Kassen voll." Stüberl erlaubt sich jetzt ein breites Grinsen.
"Ist aber anders gelaufen", fährt der Finanzverwalter dazwischen, "ganz anders. Und jetzt bin ich dran. Der Dieter hat unsere Kasse regelrecht geplündert, wir befinden uns im fünfstelligen Bereich. Und jetzt kommt noch was: es ist nicht die erste Kasse, die unser lieber Dieter geplündert hat. Ich habe mich erkundigt, hier seht Ihr die Liste der Leute, die er schon über den Tisch gezogen hat, und es sind bestimmt nicht alle hier drauf."
Er wedelt mit einem Blatt Papier hin und her, aber die dicke Luft lässt sich so nicht vertreiben. "Wo ist der Dieter heute eigentlich? Hätte man ihn nicht einbestellen können, um uns hier in dieser Runde mal zu erklären, was da eigentlich läuft? Wir machen uns hier krumm für ihn und er bringt das Geld durch, das wir mühsam eingesammelt haben, übrigens nicht für ihn alleine, aber außer ihm hat kein anderer auch nur einen Cent gesehen."
Der gestresste Finanzmann muss jetzt Luft holen und knallt das Blatt auf den Tisch: "Euch scheint das ja nicht wirklich zu interessieren. Ihr sitzt aber hier mit mir im gleichen Boot, und das Boot hat ein Leck, ein fünfstelliges Leck, habt Ihr das verdammt noch mal begriffen? Du auch, Ewald?"
Ewald Stüberl ist etwas zusammengesunken während der Worte seines Vorredners, das Grinsen ist längst verschwunden: "Ja ja, natürlich, wir hätten früher auf die Bremse treten müssen. Ich weiß auch nicht, wo Dieter ist. Er hat nur eine Nachricht hinterlassen, dass er zum Landgericht gehen muss. Und drüben im Büro ist Chaos, da finden sich keine brauchbaren Aufzeichnungen. Wir müssen uns was überlegen."
"Zum Landgericht?" wirft der Kassierer ein, "hin und zurück oder nur einfache Fahrt? Da waren die anderen jetzt wohl schneller als ich. Aber lassen wir das. Ewald, Du warst doch immer hier vor Ort und könntest wenigstens 'vermuten', wo das Geld geblieben ist!"
"Naja, die eine oder andere Reise, wegen der schönen Fotos mit dem Herrn in Berlin, dann die vielen Besprechungen . . ."
"Was kosten denn Besprechungen", fährt der Geldverwalter dazwischen, "das Büro hat er doch schon umsonst, das Material haben wir den Kronbergern in Rechnung gestellt, was zum Teufel kostet da eine Besprechung?" Die Luft ist jetzt zum Schneiden dick.
Ewald Stüberl sieht, das er jetzt rausrücken muss mit weiteren Informationen. "Wein, mein Lieber, viel Wein, manchmal auch Bier. Das geht bei Dieter so schubweise. Aber das hast Du doch sicherlich auch schon mitbekommen", versucht er sich herauszureden.
Man hätte jetzt eine Explosion erwartet. Stattdessen schiebt der verarmte Kassierer sein leeres Glas in Richtung Frau Stüberl: "Dann brauche ich jetzt auch was, und zwar ziemlich viel. Vielleicht kann ich so diesen Abend überstehen. Aber eines sage ich Euch: ich werde das nicht alleine ausbaden, so wahr mir Gott helfe."
Ganz ohne Gottes Hilfe setzt er das Glas an, trinkt es in einem Zuge leer und lässt gleich nachschenken. An dieser Stelle verabschieden wir uns von der Sitzung, denn die Suche nach der fünfstelligen Summe wird noch lange dauern, und so viel Zeit haben wir nicht. Ob der Flachheimer Spendensammelverein doch noch einen Jahresabschluss zustande bringt und wo sich der mittlerweile wohlhabende Dieter Z. derzeit tatsächlich aufhält oder aufgehalten wurde, darüber werden wir zu späterer Zeit gerne berichten.
. . . wird fortgesetzt . . .
Falsches Spiel
(Autor ist der Redaktion bekannt)
Der folgende Text ist fiktiv, Personen und Orte sind frei erfunden, eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Es ist Anfang Februar 2017. Dieter Z. sitzt im Büro von Rechtsanwalt Gerber. Er sitzt auf dem Stuhl, auf dem vor einigen Wochen noch der Oberbürgermeister von Schneeburg gesessen hatte. Dieter Z. muss daran denken, dass dieser Oberbürgermeister jetzt wieder sitzt, nicht auf diesem Stuhl natürlich, sondern hinter Schloss und Riegel. 'Kein guter Platz', geht es Dieter durch den Kopf, zum einen war er auch schon dort, wo sich momentan das Schneeburger Stadtoberhaupt aufhält, zum anderen kann er inzwischen wieder eine stattliche Liste von Dingen vorweisen, die einen Richter auf dumme Gedanken bringen könnten.
Nun, sei's drum, bei Rechtsanwalt Gerber fühlt er sich sicher. Gerber betritt den Raum und setzt sich auf die andere Seite des Tisches. "So, lieber Herr Z., wir müssen jetzt besprechen, wie es weitergehen soll. Ende nächster Woche findet ja das Treffen dieses Ausschusses statt, der mich dann anschließend beauftragen soll, diese Kronberger Geschichte aufzuklären. Allerdings habe ich selbst noch einige Vorbehalte, das erzähle ich Ihnen gleich. Wie sieht das alles aus Ihrer Sicht aus?"
Dieter Z. schaut ihn lauernd an. Wie soll er sein Gegenüber für seine Taktik gewinnen?. Dieter lächelt und wiegt den Kopf: "Also, wenn Sie mich fragen, geht mir das alles fast zu schnell. Sie wollen ja schon in wenigen Monaten ein Ergebnis vorlegen. Meinen Sie nicht, man könnte sich mehr Zeit lassen?"
Gerber grinst und schiebt sich einige Haarstränen aus dem Gesicht: "Sie brauchen mir nichts vorzumachen, lieber Herr Z., lassen Sie uns Klartext reden. Ich habe durchaus mitbekommen, dass diese Kronberger Geschichte zu Ihrem Lebensinhalt geworden ist. Wenn es in einem halben Jahr vorbei wäre, würden Sie zwar eine kleine Entschädigung bekommen, aber Sie würden in ein tiefes Loch fallen. Keine Zeitung würde mehr anrufen, das öffentliche Interesse würde sich sehr schnell anderen Dingen zuwenden."
Dieter nickt: "Ich hatte gehofft, in den Berliner Ausschuss zu kommen, aber irgendwie will das nicht klappen. Alle sind immer scheißfreundlich zu mir, aber die entscheidende Einladung bekomme ich nicht."
"Werden Sie auch nicht bekommen, man hat sich eben über Sie informiert, so leid es mir tut, Ihnen das so sagen zu müssen, aber wir wollten ja Klartext reden. Ich muss Ihnen auch die Illusion nehmen, Sie könnten über mich an das Geld der Fundisten kommen. Ihre Idee, dass ich doch in Kronberg viel Geld verdienen könnte und dann Ihrem lustigen Spendensammelverein in Flachheim einiges davon zukommen lasse, ist für mich zu riskant. Ich würde mich dabei auch erpressbar machen."
"Ich würde niemals jemanden erpressen", unterbricht ihn Dieter Z., "wie können Sie so etwas von mir denken?"
"Ich denke das nicht von Ihnen", sagt Gerber jetzt wieder mit breitem Grinsen, "ich weiß es schlicht. Sie haben ja auch ein paar Dinge in der Hand, mit denen Sie immer wieder Geld bei den Fundisten locker machen. Sie sollten wissen, hier in der Gegend kennt man sich und ich habe mich bei Frau Prof. Fuchs erkundigt."
Dieter will nicht klein beigeben: "Also Erpressung würde ich das nicht nennen. Ich beanspruche nur, was mir sowieso zusteht."
"So dürfen Sie es gerne auch formulieren, wenn Ihnen das besser gefällt. Dennoch lasse ich da nicht mit mir reden." Gerber hält inne, zieht die Luft langsam durch die Nase ein und spitzt dabei den Mund. Seine immer etwas ungepflegt wirkenden Haare haben sich wieder selbständig gemacht.
"Da ist noch etwas Anderes", beginnt er lamgsam. "In einigen Tagen wird man in der Zeitung lesen, ich hätte etwas mit dem Schneeburger Oberbürgermeister und dieser leidigen Affäre zu tun. Das ist zwar nicht der Fall, aber es wird vielleicht vom Kronberger Ausschuss zum Anlass genommen, meine Beauftragung hinauszuschieben und sich Bedenkzeit zu erbitten. Sollte dies so ablaufen, würde ich meine Bewerbung einige Tage später zurückziehen."
Jetzt herrscht Schweigen. Gerber überlegt, ob er diesem Menschen nicht schon zuviel anvertraut hat. Dieter Z. blickt überrascht und überlegt gleichzeitig, ob Gerbers Mitteilung für ihn vor- oder nachteilig sein könnte. Jeder der beiden ist jetzt eine Figur im Spiel des anderen, wie im richtigen Leben. Jeder der beiden möchte etwas gewinnen und hätte auch etwas zu verlieren. Dieter Z. sieht seine Felle davonschwimmen, was den schon geplanten reichlichen Geldfluss aus Kronberg via Gerber in die Flachheimer Vereinskasse angeht. Gerber hingegen sieht momentan ganz andere und viel größere Probleme auf sich zukommen und möchte sich mit Dieter Z. und seinen krummen Touren nicht noch ein weiteres schaffen.
Gerber wird das Schweigen zu lang: "Es gibt auch noch andere Gründe, warum ich diesen Job nicht machen will, nehmen Sie das bitte einfach so zur Kenntnis. Sie helfen mir, ich helfe Ihnen! Und natürlich würde ich nochmals eine Spende an Ihren Verein machen, keine Sorge. Zugleich hätten Sie wieder mindestens ein halbes Jahr Zeit gewonnen. Wir können die Presse gerne so lenken, dass Sie als Opfer und zugleich als Held dieser Entwicklung dastehen. Sind Sie einverstanden?" Dieter Z. nickt und Gerber schaut nervös auf die Uhr. "Dann sollten wir uns jetzt absprechen."
Dieter nickt: "Wie sollen wir es machen?" fragt er vorsichtig.
"Na, Sie haben doch guten Kontakt zur Hengstenberger Zeitung. Diese nette Redakteurin schreibt doch immer, was Sie ihr diktieren", lächelt Gerber.
Jetzt lächelt auch Dieter wieder. "Eine Superfrau, ich rufe an und am nächsten Tag ist es gedruckt, ohne dass sie es prüft oder noch andere Informationen einholt."
"Wunderbar", bestätigt ihn Gerber, "dann machen wir es so: im Hengstenberger Tagblatt sollte stehen, dass nun kein Weg mehr an meiner Beauftragung vorbeiführt. Dann wird leider der Artikel in der Schneeburger Presse erscheinen. Jetzt muss das Hengstenberger Tagblatt schreiben, dass für mich die Unschuldsvermutung zu gelten hat und die Fundisten hier nur wieder einen Vorwand finden könnten, die Aufarbeitung ihrer Missbrauchsgeschichte zu verzögern. Dann kommt die Sitzung des Ausschusses. Dort müssen Sie mit möglichst vielen Leuten erscheinen und regelrecht randalieren." Gerber macht eine Pause, damit Dieter mit dem Schreiben nachkommt.
"Wenn die Entscheidung über meine Beauftragung verschoben wird, werden sowohl Sie mit Ihren Leuten als auch ich ganz entrüstet auftreten: mangelndes Vertrauen, vorgeschobene Gründe usw. usw., sollte auch alles ins Tagblatt. Ein paar Tage später werde ich dann eine Pressemitteilung verschicken, dass ich auf Grund des mangelnden Vertrauens zurücktrete und ich schreibe noch was von Zensur, das kommt immer gut an bei der Presse. Wenn das so klappt, haben wir beide was davon."
Dieter ist noch nicht zufrieden: "Würden Sie uns dennoch weiterhin als Anwalt zur Verfügung stehen?" fragt er vorsichtig.
"Wenn Sie es so formulieren, habe ich kein Problem damit. Zur Verfügung stehe ich immer, ob ich tätig werde für Sie, hängt ja auch noch von anderen Dingen ab." Dieter hat Gerbers Andeutung sofort verstanden. Gerber möchte keinesfalls in Vorleistung treten wie die drei anderen Anwälte, die bis heute vergeblich auf ein Honorar warten.
"Also gut", Dieter erhebt sich, weil er einsieht, heute nicht mehr erreichen zu können. "Also gut, dann bis nächsten Samstag, die Sitzung des Ausschusses ist ja nicht in Kronberg, sondern im Amerika-Hotel in Hengstenberg. Vielen Dank und auf Wiedersehen."
Auch Gerber ist aufgestanden, ein kurzer Händedruck und Gerber ist alleine. Eine Weile blickt er auf die drei jetzt leeren Stühle vor seinem Schreibtisch. Die drei Anderen, die sich hier vor einigen Wochen mit ihm beraten haben, sitzen allesamt hinter Schloss und Riegel. Er selbst hat sich bislang heraushalten können aus dieser Affäre. Wie lange noch? Was werden die drei Anderen aussagen, wenn sie merken, dass die Beweise drückender werden? Fragen über Fragen, die Kronberger Geschichte kann Herrn Gerber momentan nicht wirklich interessieren, das Hemd ist näher als die Hose.
Was zuvor noch geschah
(Autor ist der Redaktion bekannt)
Der folgende Text ist fiktiv, Personen und Orte sind frei erfunden, eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Im Zimmer des Bischofs von Schneeburg sitzt der Staatsanwalt. Es ist tatsächlich nur ein Zimmer, denn Bischof Hiderhauser hat auf die prächtigen Räume im frisch sanierten Ordinariat verzichtet. Er ist bescheiden, ganz im Gegensatz zu seinem Kollegen aus Schlimmburg, der es so weit getrieben hatte mit der Prasserei, dass er von seinen Gläubigen aus der Stadt gejagt wurde. Keine Gemeinde im ganzen Land wollte den Schlimmburger aufnehmen, bis er doch in Schneeburg Asyl bekommen hatte.
Aber das ist eine andere Geschichte. Kehren wir zurück in die bescheidenen Privaträume des Schneeburger Bischofs, der soeben seinem Gast erklärt, wieso er ihn noch zu später Stunde zu sich gebeten hat.
"Hier werden wir nicht gestört, mein Lieber", beginnt Hiderhauser das Gespräch. "Wir kennen uns jetzt so lange, mein Verehrtester, dass ich mich bewusst an Sie gewandt habe. Sie sind doch zuständig für diese traurige Sache mit unserem Oberbürgermeister."
Der Gast wirkt etwas irritiert, zum einen durch die sehr förmliche Anrede. Schließich waren sie beim letzten Fasching sogar einige Stunden per Du gewesen, allerdings wollten sie sich beide an diese Szenen bestimmt nicht mehr erinnern.
"Ja, das fällt in meine Zuständigkeit, Eure Eminenz", antwortete der Strafverfolger ebenso förmlich, "haben Sie etwa Neuigkeiten für mich, die mir bei den Ermittlungen helfen könnten?"
"Leider nein, Sie wissen ja, für mich gilt das Beichtgeheimnis. Und zudem muss ich beklagen, dass ich die Herren, die jetzt in Untersuchungshaft sitzen, nie in meinem Beichtstuhl gesehen habe. Es geht um etwas Anderes: Sie wissen ja, dass wir auch einen Skandal aufarbeiten müssen, diese leidige Geschichte in unserem Knabeninstitut."
"Ich weiß schon, aber was hat das mit meinen Ermittlungen gegen den Oberbürgermeister zu tun?" fragt der Jurist dazwischen.
"Nun, das ist schnell erklärt. Der gestrigen Zeitung entnehme ich, dass Sie mehrere Personen festgesetzt haben, nachdem Sie sich bei diesem . . . Sie wissen schon . . . getroffen haben, sogar bei ihm privat, bei ihm zuhause, um sich mit einem Ihrer Zeugen zu 'unterhalten', um es mal vorsichtig auszudrücken."
Jetzt riecht der Ermittler den Braten: "Sie wollen sich mit mir über Herrn Gerber unterhalten?" grinst er jetzt über beide Ohren. "Warum sagen Sie das nicht gleich? Befürchten Sie einen Ausfall?"
"So könnte man es nennen", bestätigt der Geistliche, "Herr Gerber ermittelt nun schon eine halbe Ewigkeit in unserem Knabeninstitut, um die damaligen Vorgänge aufzuklären. In wenigen Wochen will er den Abschlussbericht vorlegen. Wenn Sie . . . wenn Sie mir nun . . ."
". . . dazwischen kämen", ergänzt lachend sein Gast, "ja, das kann ich verstehen, das käme Ihnen sehr ungelegen, das kann ich verstehen. Aber ich kann Sie zumindest für den Moment beruhigen."
"Sind Sie sicher?" Die Miene des Bischofs hat sich noch nicht aufgehellt. "Wenn ich eins und eins zusammenzähle, ach Gott, und da ist noch dieser Sportverein, da waren die ja auch alle an einem Tisch . . ."
". . . unter einer Decke wäre passender", meint sein Gegenüber, auch bei ihm ist jetzt jegliche Heiterkeit gewichen. "Aber ich kann Sie insoweit beruhigen, dass Sie nicht befürchten müssen, Ihren Abschlussbericht nicht zu bekommen. Diese Sache mussten wir bereits berücksichtigen, die Anweisung kam von ganz oben."
"Von ganz oben", staunt der Bischof, er dachte bis jetzt, dass damit nur er gemeint sein könne.
"Nein, von noch weiter oben, höher geht nicht mehr. Sie wissen doch, wer das Knabeninstitut damals geleitet hat. Dann wissen Sie auch, was mit 'ganz oben' gemeint ist. Auch an dieser Stelle ist man daran interessiert, dass die Sache mit Ihrem Institut nun abgeschlossen wird. Und Herr Gerber wird dies ja auch zu aller Zufriedenheit tun. Doch jetzt habe ich schon zu viel gesagt."
Nach einigem Schweigen sagt der Bischof: "Ich versichere Ihnen, dass ich alles bisher Gesagte und auch alles, was weiter heute zwischen uns gesprochen wird, dem Beichtgeheimnis unterstelle. So können wir also ganz offen weiterreden. Sind Sie einverstanden?"
Sein Gast nickt: "Gerne, aber das Wichtigste ist ja schon ausgesprochen. Machen Sie sich also keine Sorgen, dass wir in irgendeiner Weise aktiv werden, bevor Herr Gerber seine Arbeit bei Ihnen abschließen wird. Allerdings kann Ihnen niemand garantieren, dass nicht einer seiner früheren Mitstreiter ihn belasten könnte, vielleicht auch nur, um sich selbst zu entlasten."
"Das wäre nicht schön. Was mich auch irritiert hat", fährt der Bischof fort, "ist die Tatsache, dass Herr Gerber auch noch einen weiteren Fall dieser Art in . . . ich hatte diesen Namen noch nie zuvor gehört . . . in . . .
". . . in Kronberg meinten Sie wohl?"
"Genau, wie kommt er denn an diese Sache? Wissen Sie da Näheres? Hat das irgendetwas mit unserer Geschichte hier zu tun?"
"Ja und nein", erläutert der Jurist. "Auch dort sind Minderjährige in einem Heim auf vielerlei Art misshandelt worden. Allerdings sind oder waren die handelnden Personen völlig andere. Wir sind von anderer Seite auf diese Kronberger Geschichte aufmerksam geworden. Es gibt Hinweise, dass die Kronberger Missbrauchs-Geschichte von einigen Leuten benutzt wird, um Spenden einzuwerben, die aber letztlich nicht dem angegebenen Zweck dienen, um es vorsichtig auszudrücken."
"Ich verstehe aber dennoch nicht, was die dortige Geschichte mit den hiesigen Behörden zu tun haben soll!"
"Ganz einfach: dieser mysteriöse Spendensammelverein hat sich gleich hier um die Ecke in Flachheim niedergelassen. Näheres weiß ich selbst noch nicht, aber wir ermitteln derzeit. Und nun raten Sie mal, wer der Anwalt dieser Leute ist? Sie ahnen es?"
Der Bischof lächelt: "Jetzt verstehe ich endlich. Sie werden Herrn Gerber niemals direkt angehen, sondern er führt Sie automatisch zum nächsten Fall. Genial!"
"Genau! Und diese Flachheimer Spendensammler sind so dumm, selbst nachdem es in der Zeitung stand, dass wir die Telefone abhören, haben sie den Gerber trotzdem angerufen. Einen kleinen Betrag hatte er denen wohl auch schon 'gespendet', aber jetzt wollen sie noch mehr. Immer dasselbe, unersättlich sind die Menschen. Aber die Flachheimer unterscheiden sich noch in einem anderen Punkt von den Schneeburger Geldverschiebern. Sie arbeiten mit . . . wie will ich sagen . . . mit so versteckten Drohungen, man könnte auch sagen, etwas erpresserisch. Nun ist Herr Gerber ja nicht dumm, er riecht den Braten, sie haben ihn noch nicht in der Hand. Ich schätze mal, er wird, nein er muss versuchen, sich unter irgendeinem Vorwand aus der Affäre zu ziehen. Ich wette, spätestens Mitte Februar wird er in Kronberg unter einem Vorwand den Bettel hinschmeißen."
"Und was heißt das für uns?"
"Im Moment droht Gefahr von keiner Seite. Auch nachdem er Ihnen seinen Scheeburger Abschlussbericht vorgelegt haben wird, kann wohl nicht viel geschehen. Die da oben - ganz oben - ", der Jurist muss wieder grinsen, "die da oben wollen Ihren Geschäftspartner keinesfalls beschädigen. Das könnte ja sonst dazu führen, dass die Seriosität seiner Arbeit nachträglich angezweifelt werden könnte."
"Sehr gut", nickt der Bischof, "eigentlich aber auch schlimm. In welcher Welt leben wir eigentlich. Wenn man die richtigen Freunde hat, kann man sich alles erlauben, ist gar sicher vor Ermittlungen . . . "
Der Jurist zögert mit seiner Antwort. Wen meint der Bischof wohl mit den 'richtigen Freunden'? 'Irgendwie gehören wir alle dazu in dieser Stadt', geht es ihm durch den Kopf. 'Ganz gleich, ob es um solche Geldgeschichten oder die Misshandlung von Schutzbefohlenen geht, möglich wird dies alles durch solche verschworenen Gemeinschaften.'
Auch der Bischof blickt vor sich hin und denkt darüber nach, was er da eben so unüberlegt gesagt hat. Nach längerem Schweigen schauen sich beide wieder an, stehen auf und geben sich die Hand. Man wünscht sich einen guten Abend, der Bischof bedankt sich überschwänglich und der Gast wird noch zur Türe geleitet.
wird fortgesetzt
Das Märchen von der ausgerutschten Hand
Es war einmal eine Hand. Die war ausgerutscht. Einfach so. Ihr Besitzer blickte verwundert auf diese Hand und fragte sich, wie das passieren konnte. Genau genommen, wie das schon wieder passieren konnte.
Und was so gar verwunderlich war: die Hand wurde zunehmend geselliger, wenn sie ausrutschte. Mal paarte sie sich mit einem Stock, ein anderes Mal sogar mit einem Stück Gartenschlauch. Auch ein Suppenlöffel und ein Kleiderbügel gesellten sich zu den Gefährten.
Und die Hand wurde zunehmend erfindungsreicher. Sie rutschte nicht nur einfach so aus, sondern sie ergriff etwas, was zufällig in der Nähe war und zog daran. Sie fand Ohren, die sie ausversehen etwas einriss und ein paar Haare, die sie ausriss.
Einige Zeit später wurde ihr Besitzer gefragt, wie denn das passieren konnte, also das mit seiner Hand. Er meinte, er hätte eigentlich gar nichts damit zu tun. Das könne nicht sein, entrüsteten sich die, die ihn fragten.
"Ja wisst ihr denn nicht, wer der eigentlich Schuldige ist?" lächelte der Hand Besitzer. "Es ist der 'Kontext der Zeit', der hat meine Hand geführt, was habe ich denn damit zu tun. Und wagt ja nicht, mir weitere Fragen zu stellen. Meine Hand könnte jederzeit wieder ausrutschen. Sie gehört nämlich noch in diese Zeit, in der Ihr auch diesen 'Kontext' finden werdet. Es gibt ihn immer noch. Damals hat er meine Hand geführt. Heute formuliert er meine Worte."
Autor: Pest-Allozi (01.04.2016)
06.01.2016
(Autor ist der Redaktion bekannt)
Der folgende Text ist fiktiv, Personen und Orte sind frei erfunden, eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Bilanz
Martha Fuchs sitzt in einem schmucklosen Besprechungsraum der Fundisten. Sie ist nicht alleine. Rechts neben ihr sitzt Herr Haarle, links Herr Franz und gegenüber hat Herr Gleichauf Platz genommen. Er hat noch Herrn Miesfeld mitgebracht. Frau Fuchs ist etwas nervös und blättert in ihrem Aktenstapel, den sie vor sich aufgebaut hat.
"Seit fast einem Jahr läuft nun unsere 'Vergangenheitsbewältigung' mit Ihnen an der Spitze", beginnt Herr Gleichauf das heutige Treffen und lächelt dabei. "Wir haben zwar so gut wie nichts erreicht, aber das war ja auch so gewollt, nicht wahr, lieber Samuel?"
Herr Miesfeld strahlt zurück. "Es ist einfach genial, wie Sie das gemacht haben, liebe Frau Prof. Fuchs, ich bin begeistert." Bevor er zu einer längeren Laudatio anheben kann, unterbricht ihn das Opfer seiner Lobeshymne:
"Ich war ja selbst überrascht, wie leicht wir die Missbrauchsopfer gegeneinander aufbringen konnten. Aber da hat mir meine langjährige Erfahrung unglaublich geholfen." Jetzt, da Frau Prof. Fuchs beschlossen hat, sich gleich selbst zu loben, wagt keiner zu widersprechen und alle hängen an ihren Lippen.
"Es klingt vielleicht etwas makaber, meine Herren, aber die eigentliche Vorarbeit haben Sie selbst geleistet bzw. ihre Vorgänger und früheren Mitarbeiter. Ich bin nun doch schon so weit in die Materie eingedrungen, um erkennen zu können, wie einfach Ihr Erziehungssystem in den Kinderheimen aufgebaut war" - Frau Fuchs beobachtet die Wirkung ihrer Worte, bevor sie hinzufügt - "und wohl auch noch ist."
Schweigende Neugier füllt die kurze Pause. "Ich habe Ihnen mal den 'Knecht Ruprecht' von Theodor Storm mitgebracht, der bringt es auf den Punkt:
Nun sprecht, wie ich's hierinnen find!
Sind's gute Kind, sind's böse Kind?"
Miesfeld und Franz schauen sich an, wie wenn sie jetzt eine Entscheidung treffen müssten. Es trifft sie sofort ein strafender Blick und sie richten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die sich selbst lobende Gelobte.
"Genau so funktioniert es ja auch in ihrem Kinderheim, Herr Miesfeld“, der Unaufmerksame wird direkt angesprochen. "Zunächst sind es erst mal nur böse Kinder. Aber man kann ein gutes Kind werden, wenn man mit den Erwachsenen kooperiert, zunächst deren Regeln befolgt, aber nicht nur das: man muss auch lernen, diejenigen, die eine heimliche Regelübertretung begehen, bei den Erwachsenen zu denunzieren." Die Gestrenge blickt wieder in das Büchlein und zitiert:
Ei, ei, für trotz‘gen Kindermut ist meine lange Rute gut!
Heißt es bei euch denn nicht mitunter:
Nieder den Kopf und die Hosen herunter?
Die Herren werden rot vor Verlegenheit. "Keine Angst", lächelt die Professorin, "ich lese nicht weiter vor. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass diese Erziehungsmethoden sich bis heute auszahlen."
"Wieso auszahlen?" platzt Herr Haarle heraus, "wir haben doch nur einen Haufen Probleme damit!" Er schüttelt verständnislos den Kopf.
"Da hätten Sie mir vorhin mal besser zugehört, mein Lieber", meint Frau Fuchs belehrend, aber mit mildem Lächeln. "Genau so haben wir es doch geschafft, uns für viele Monate Luft zu verschaffen, Zeit zu gewinnen, die Medien einzuschläfern."
Herr Haarle scheint noch immer nichts zu begreifen. "Schau‘n Sie doch, wir, ich meine natürlich Sie, haben die drei 'Guten' gekauft und diese drei waren die ganze Zeit mit nichts anderem beschäftigt, als mit uns zu kooperieren und uns die anderen Missbrauchsopfer vom Halse zu halten. Und nicht nur das: viele von denen, die wir erfolgreich ausschließen konnten von unserem Prozess der Vergangenheitsbewältigung, viele von denen werden sich jetzt gar nicht mehr beteiligen wollen, wenn wir unser Sorgentelefon doch noch einrichten sollten."
„Also gekauft haben wir niemanden“, bemerkt Herr Gleichauf, „das kann man so nicht sagen.“ „Erinnern Sie sich nicht“, widerspricht Frau Fuchs, „erinnern Sie sich nicht an ihren wunderbaren Anzug, den Sie beim großen Kirchentreffen getragen haben?“ Herr Gleichauf schaut sie fragend an. „Na, den Anzug, in dem in jeder Tasche diese Scheinchen steckten, die man nur schnell herausziehen musste.“
Herr Gleichauf will sich ungern erinnern. „Sie waren doch ein solch erfolgreicher Goldesel in diesen Tagen, dass die ‚guten Kinder‘ schnurstracks die Liste wieder abgehängt haben, auf der ihre Peiniger verzeichnet waren.“
Herr Gleichauf widerspricht nicht weiter und Frau Fuchs wendet sich nun der ganzen Runde zu: „Ich meine das überhaupt nicht ironisch, Ihr Chef hat das hervorragend gemacht. Anschließend hat er ‚die Guten‘ noch ins teuerste Hotel am Platz zum Essen eingeladen, einfach genial.“
Herr Haarle beginnt zu begreifen: „Ach so meinen Sie das, verehrte Frau Professor, das mit den Guten und den Bösen. Aber irgendwann merken das die anderen doch.“ „Sie haben es längst gemerkt, lieber Herr Haarle, aber diesen Job habe dann ich erledigt. Mir ist es gelungen, durch liebevolle Einzelgespräche einen Aufstand hinaus zu zögern. Allerdings lässt sich dies nun nicht länger verhindern, wir werden deshalb die Strategie ändern.“
Herr Gleichauf fragt überrascht: „Was meinen Sie damit, Verehrteste? Müssen wir jetzt noch andere kaufen, ich wollte sagen, überreden?“
Herr Franz hat die ganze Zeit geschwiegen, doch jetzt meldet er sich zu Wort: „Ich bin nicht der Meinung, dass wir etwas ändern sollten. Es läuft doch prima. Unsere drei ‚Guten‘, wie Sie sie nennen, kommen mit immer neuen Ideen und Forderungen, wir signalisieren ihnen, wie toll ihre Ideen sind und das wir das alles so machen, und dann machen wir nichts.“ Er blickt siegessicher in die Runde.
„Na ja, lieber Herr Franz“, auch diese drei Personen merken langsam, dass ihre wesentlichen Anliegen in der seitherigen Aufarbeitungsgruppe nicht vorankommen. Und die Freude am neuen Computer, am neuen Mobiltelefon und an den reichlichen Spesen wird nicht ewig anhalten. Nein, es gibt ab sofort diese Aufarbeitungsgruppe nicht mehr, zumindest werde ich sie nicht länger leiten.“
Einen Moment lang herrscht Totenstille. Alle schauen Herrn Gleichauf an, schließlich muss er jetzt etwas sagen. Gleichauf blickt einen Moment auf das noch leere Blatt Papier, das vor ihm liegt, dann holt er tief Luft und schaut die Professorin an.
„Wie Sie sehen“, beginnt er zögerlich, "sind wir etwas überrascht. Wir können doch jetzt nicht einfach aufhören mit diesem schwierigen Prozess, noch bevor er eigentlich begonnen hat. Die Öffentlichkeit, die Presse, sie werden uns zerreißen. Ich hoffe doch sehr, Sie haben einen Vorschlag, wie es weitergehen soll.“
Die anderen Herren nicken zustimmend. Frau Fuchs lächelt jetzt. „Natürlich werde ich Ihnen Vorschläge unterbreiten. Ich selbst bin ja auch an Ergebnissen interessiert. Nur muss ich Ihnen nach diesem ersten Jahr ganz ehrlich sagen, dass ich im Moment nur einen einzigen Bereich sehe, in dem sich ein Ergebnis erzielen lässt. Es handelt sich um die wissenschaftliche Aufarbeitung, und auf diese werde ich mich ab sofort beschränken.“
Keiner sagt etwas, also fährt Frau Fuchs fort: „Ich kann Sie auch beruhigen, was den Zeitraum angeht, dem ich mich widmen werde. Die letzten vierzig Jahre werde ich ignorieren . . . „ Herr Haarle springt auf: „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, ich hatte das ganz vergessen“. Er strahlt über das ganze Gesicht, fast hätte er die Professorin umarmt.
Frau Fuchs antwortet kühl: „Jetzt fallen Sie mir bitte nicht ins Wort, ich weiß, dass Sie das glücklich macht. Allerdings kann ich Ihnen nicht garantieren, dass diese „Bachlhütter-Geschichte“ nicht doch noch die Runde macht.“ Herr Haarle vergisst vor Schreck sein Getränkeangebot. „Aber wenn das in keinem Buch steht, können wir es immer abstreiten“, beruhigt Herr Miesfeld.“
„Wenn Sie das so sehen, soll es mir recht sein“, meint Frau Fuchs. „Aber so einfach wird es vielleicht nicht gehen, selbst Dieter Z. hat Sie schon mehrmals darauf angesprochen. Diese Sache kam zudem auch zur Sprache, als die ‚kritischen Bürger‘ mit in unserer Runde saßen, Sie erinnern sich?“ „Die soll der Teufel holen“, platzt Herr Franz heraus. „Die machen uns nur Ärger, aber wir ihnen mittlerweile auch.“
„Wie soll ich das verstehen?“ fragt Frau Fuchs. „Ich habe immer betont, dass die kritischen Fragen, die diese Bürger stellen, durchaus auch ihre Berechtigung haben. Wieso und auf welche Weise möchten Sie diesen Menschen Ärger bereiten?“
Herr Franz ist schneller als Herr Miesfeld: „Die greifen uns an, und wir greifen sie an.“ „Diese Bürger sammeln Fakten, verstehen Sie dies als Angriff? Und einen Gegenangriff Ihrerseits kann ich derzeit nicht sehen“, antwortet Frau Fuchs. „Wir greifen sie ja auch nicht offen an. Wir machen das“, er zögert einen Moment, „wir machen das . . . wie immer.“
Frau Fuchs steht auf und packt ihre Sachen: „Nicht mit mir, meine Herren, ich habe das jetzt einfach nicht gehört. Im neuen Jahr machen wir eine schöne Abschlussveranstaltung und ich stelle ihnen neue Ausschüsse und Arbeitskreise vor, die dann ihre Arbeit aufnehmen werden oder auch nicht, das bleibt Ihnen überlassen. In diesen neuen Strukturen können Sie Pöstchen in genügender Anzahl verteilen an diejenigen, die Sie weiter bei Laune halten wollen. Ich werde mich jetzt meiner wissenschaftlichen Tätigkeit zuwenden.“
Herr Gleichauf antwortet verärgert: „So können Sie uns doch nicht hängen lassen, wir benötigen jemanden wie Sie, der unsere Aufarbeitung objektiv
erscheinen lässt.“
„Das verstehe ich, nur kann und will ich diese Rolle nicht länger übernehmen. Ich werde Ihnen geeignete Vorschläge machen für Personen, die den Gremien, die das nächste Jahr überbrücken sollen, vorstehen könnten. Und nun muss ich einen weiteren Termin wahrnehmen.“ Frau Prof. Fuchs packt ihre Tasche, die Herren sind aufgesprungen, ein kurzer Händedruck, und die Sitzung ist beendet. Frau Fuchs ist schon draußen, die Herren haben wieder Platz genommen.
Nach einer längeren Pause fragt Herr Franz: „Und jetzt?“ Herr Haarle zuckt mit den Schultern, Herr Gleichauf atmet tief durch und sagt dann: „Ich habe so etwas eigentlich erwartet, aber noch nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Ich kann ja verstehen, Frau Fuchs will unbedingt einen Erfolg nachweisen. Nachdem wir uns aus der Entschädigungsfrage herausgewunden haben, will sie sich jetzt schnell aus der Schusslinie bringen, eigentlich verständlich.“
„Wieso haben wir eigentlich das mit den Entschädigungen nicht gebacken gekriegt?“ fragt Herr Haarle. „Was fragst Du mich das“, sagt Herr Gleichauf etwas unwirsch, „Du hast doch mitbekommen, dass man mich zurückgepfiffen hat. Ihr wisst so gut wie ich, dass wir hier nur so etwas wie die Schaufensterpuppen dieser ganzen Aufarbeitung sind, das Sagen haben immer noch Andere, Ihr wisst genau, wen ich meine.“
Wieder herrscht langes Schweigen. Herr Gleichauf fährt fort, es ist nicht so klar, ob er zu den anderen im Raum spricht oder nur für sich. „Einerseits bin ich das Oberhaupt der Gemeinde, andererseits habe ich meine klaren Anweisungen: keine finanziellen Entschädigungen, keine Aufklärung der näheren Vergangenheit und Zeit gewinnen, Zeit gewinnen um jeden Preis. Jeder Tag, jede Woche, jeder Monat lässt wieder jemanden über die Schwelle der Verjährungsfristen gehen. Ich kann das ja verstehen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob wir nicht eines Tages einen noch höheren Preis bezahlen. Mir wäre es lieber, unsere Gemeinde würde sich von den Leuten distanzieren, die wirklich Dreck am Stecken haben, aber ich kann es einfach nicht durchsetzen.“
„Ich denke, wir haben nichts zu befürchten“, tröstet ihn Herr Miesfeld, „wir haben momentan in der Presse schon eine Art Totenstille bewirkt. Die haben das Gefühl, es kommt eh nichts Neues mehr und haben das Interesse verloren. Dieter Z. haben wir in der Hand, ich habe mit ihm ausgemacht, er darf ruhig ab und zu ein bisschen stänkern, um sein Gesicht zu wahren, aber da ist die Luft raus. Frau Prof. Fuchs wird alsbald viele neue Gremien vorstellen, da können wir unsere ‚Guten‘ beschäftigen. Und die 'Guten' haben uns versprochen, mehr gegen die Kritiker zu argumentieren als gegen uns, so ist es vereinbart, also keine Sorge.“
Man spürt die Erleichterung, die sich im Raum ausbreitet, alle schauen dankbar Herrn Miesfeld an. Die Herren falten die Hände und danken Gott und Frau Prof. Fuchs für das gewonnene Jahr.
Verwahrlost und Gefährdet?
So lautet der Titel des Begleitbuches, das das Landesarchiv Baden-Württemberg zu der Wanderausstellung herausgebracht hat. Es handelt sich um ein vollständiges Werk, das die verschiedenen Aspekte der Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 wissenschaftlich aufarbeitet. Anhand von Dokumenten und Aussagen der ehemaligen Heimkinder werden die historischen Wurzeln, der Alltag, die Strukturen und Verantwortlichkeiten, die Suche nach der Gerechtigkeit und die Suche der Betroffenen nach einem würdevollen Leben untersucht.
Die wissenschaftlichen Abhandlungen werden für den Leser, vor allem für die das nicht erlebt haben, plastisch und nachvollziehbar durch die Zeitzeugenberichte.
Korntal ist nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchungen, es gibt aber einen Zeitzeugenbericht aus Korntal, der mich sehr beeindruckt hat. Es geht darin nicht um spektakulären Missbrauch, es geht um die alltägliche Gewalt, den Sadismus, mit der sie ausgeübt worden ist und die emotionale Vernachlässigung. Es wird unter anderem beschrieben, dass die Kinder jeden Abend ohne konkreten Anlass von der Schwester L. mit einem eigens dafür in heißem Wasser erhitzten Kleiderbügel verprügelt wurden, dass die stellvertretende Heimleiterin sie dabei unterstützte. Die schlimmen Folgen sind für die Zeitzeugin noch heute allgegenwärtig.
In den wissenschaftlichen Abhandlungen finden sich Ansätze für die Erklärung der gegenwärtigen Situation in Korntal, wo sich Opfergruppen heftig befehden. „Das demütigende Vorführen der Bettnässer zeigt, dass Kinder und Jugendliche für die Bestrafung gegeneinander eingesetzt wurden. Strafen wie das Vorführen, die andere Kinder Teil der Strafe werden ließen, verstärkten die bereits vorhandenen Hierarchien im Heim, die wiederum die Solidarität zwischen den Kindern erschwerten.“ "Das Fördern von Gruppenkeile durch Erzieher und das Bestrafen von Kindern, die an der Bestrafung anderer Kinder nicht teilnehmen wollten, verstärkte diese Dynamiken weiter und war für beides Seiten demütigend.“ Bestimmte Verhaltensweisen scheinen heute noch nachzuwirken. Man stellt sich auf die Seite der Autorität und „bestraft“ die Unbotmäßigen. Veröffentlichungen in den sozialen Netzwerken legen dies nahe.
Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Man bekommt einen Eindruck davon, was die Aufarbeitung in Korntal noch leisten muss.
Das Buch „Verwahrlost und Gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949 - 1975“ ist im Buchhandel für 15 € erhältlich.
Dr. Ludwig Pätzold
Und Gott schaut weg
Leseprobe aus dem Roman von Detlev Zander, der am 6. Mai 2015 erschienen ist.
Der folgende Text ist Teil einer fiktiven Geschichte, Personen und Orte sind frei erfunden, eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Kapitel 10
Das System
Eigentlich funktioniert alles ganz einfach in dieser verschworenen Gemeinschaft. Im Grunde wird nie darüber gesprochen, es wird ganz einfach so gemacht. Es wird schon immer so gemacht und es wird auch noch lange Zeit so weitergehen.
Es gibt die Welt hier drinnen. Da darf jeder nach seinen Regeln leben, ganz selbstbestimmt und selbstverliebt.
Und es gibt die Welt da draußen. Dort gibt es strenge Regeln. Aber nur da draußen gelten diese strengen Regeln.
Auch nur dort werden sie ständig angemahnt. Sobald jemand zuschaut, werden die Regeln eingeübt, werden sie gebrüllt, kommandiert oder aufgeschrieben. Oder besser noch: gebetet.
Dieser strenge Regelkanon ist sehr ermüdend, insbesondere dann, wenn man ihn auch noch einer solchen „Bande hergelaufener Racker“ eintrichtern muss. Deshalb bedarf es eines Ausgleichs, sonst kann dies kein normaler Mensch aushalten.
Jeder in diesem System muss sehen, wo er bleibt.
Herr Spitzer kümmert sich um seine Pferde und besucht abwechselnd Frau Hartmann und Frau Frings durch die untere Türe. Wenn das nicht ausreicht, baut er mal wieder ein Haus. Genauer gesagt, er lässt es bauen. Die Materialkosten rechnet er über das Kinderheim ab und Arbeitskräfte gibt es genug, die größeren Buben und die Zivildienstleistenden.
Diese „Drückeberger und Vaterlandsverräter!“ Doch da können sie endlich einmal etwas Sinnvolles leisten und dabei Herrn Spitzers Reichtum etwas mehren.
Herr Zwergle hat seine Kinder. „Seine“ Kinder! Er missbraucht nicht jedes Kind, ganz im Gegenteil. Es muss ja später auch Kinder geben, die nur Gutes über ihre Zeit im Heim erzählen können. Sonst würde ja das System nicht mehr funktionieren.
Aber welche Kinder wählt man aus für den Missbrauch? Dafür gibt es ganz bestimmte Auswahlkriterien.
Zuerst müssen sie noch möglichst klein sein, dann kann man sie heranziehen, ihnen das Gefühl vermitteln, dass ihr Alltag der Normalität entspricht. Die wichtigste Information liefert Ella Frings.
„Wie immer!“ pflegt sie zu sagen, und das bedeutet, dass dieses Kind entweder keine Eltern mehr hat oder dass eigentlich niemand da ist, der irgendwann einmal nachfragen könnte, wie es diesem Kind so geht.
„Wie immer!“ heißt auch:
„Mein lieber Franz, Du kannst dem Kind einfach sagen: „Deine Eltern sind tot“, ob das nun stimmt oder nicht, „und Dich damit zur Bezugsperson aufbauen.“
Es gibt noch weitere Code-Wörter, die alle im Kinderheim kennen und wissen:
„Finkele“ ruft Herr Zwergle „seine“ Kinder, und in dem Sprachraum, in dem sich unser Kinderheim befindet, weiß jeder, was damit gemeint ist, etwas sehr Eindeutiges.
Aber auch das scheint niemanden zu stören, denn es geschieht ja in der Welt hier drinnen, es stört auch niemanden, dass Herr Zwergle dieses Wort laut durch den Hof ruft und jeder, der des Dialektes mächtig ist, und das sind viele, nun weiß, was er jetzt gleich mit diesem Kinde machen wird.
Frau Frings liebt ihren Prügel. Sie prügelt mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie oft Herr Spitzer durch die untere Türe gekommen ist. Und sie fasst ihre Kinder überall dort an, wo höchstens mal ein Arzt im Krankheitsfalle ganz vorsichtig anfassen dürfte.
Wenn die Kinder unbekleidet im Waschraum sind, macht sie schöne Bilder für das Album. Es gibt sogar Leute, die Geld dafür bezahlen, wenn sie ein Bild von unbekleideten Kindern bekommen können. Fotografieren ist ja nicht ganz billig, umso erfreulicher ist es, wenn man wieder etwas zurückbekommt.
Jeremia Kunz kommt ab und zu in seinem grünen Auto vorbei, angeblich, um sich bei Herrn Zwergle etwas Apfelwein zu holen. Aber eigentlich benötigt er mal wieder einige Informationen über die Neuzugänge im Kinderheim und will sich erkundigen, wie weit Herr Zwergle schon gekommen ist mit der Vorbereitung.
Besonders das Album von Tante Ella mit den Kinderbildern aus dem Waschraum ist interessant für ihn. Und wenn Herr Kunz wieder abgereist ist in seiner fahrenden Mülltonne, dann weiß auch Tante Ella schon, wer am nächsten Sonntag gleich nach dem Kirchgang Herrn Kunz begleiten darf auf seiner Spritztour durch Kronberg.
Herr Kunz ist sehr wichtig im System, er ist sozusagen der Finanzier. Denn so ganz umsonst funktioniert das alles nicht. Süßigkeiten in großen Mengen haben auch ihren Preis und Tante Ella träumt vom Wohneigentum im Alter. Also mit Herrn Kunz will es sich bestimmt niemand verderben.
Weil aber selbst die Mittel von Herrn Kunz nicht ausreichen, um alle Wünsche zu erfüllen, hat man sich noch etwas Anderes ausgedacht.
Man kann Pate werden im Kinderheim. Damit tut man etwas Gutes und Edles. Die armen Kinder haben so die Gelegenheit, das Wochenende in einer richtigen Familie zu verbringen. Wobei es sich im Laufe der Zeit herausgestellt hat, dass alleinstehende Männer viel mehr Zeit haben für ihre Patenkinder und zudem auch noch viel großzügigere Spenden bei Herrn Spitzer abgeben.
Damit es keine Probleme gibt, werden in diesem speziellen Falle nur solche Kinder ausgeborgt, für die Herr Spitzer sich die Vormundschaft hat übertragen lassen.
Es gibt noch viel mehr Menschen, die sich wohlfühlen in diesem System.
Herr Füller kümmert sich mehr um die älteren Mädchen, die auch mal beim ihm zuhause in Kronberg übernachten dürfen. Herrn Füllers Gäste freuen sich aufrichtig über die nette Gesellschaft und die Mädchen freuen sich über ein Stück buntes Papier. Die Kronberger Fundisten sind Meister darin, alle Probleme des täglichen Lebens zu lösen, und am liebsten gründen sie für jeden Bereich gleich eine gut funktionierende Einrichtung.
Haben wir Herrn Hartmann schon genannt?
Oder den netten Herrn, der in Kronberg immer diese lustigen Partys macht?
Herr Zwergle hat ja auch noch einen Hausmeister-Kollegen.
Und all’ die anderen? die Helfer? die Erzieher? das Küchenpersonal? die Putzfrau?
Ihnen allen gibt Herr Spitzer bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verstehen, dass man alles darf in dieser Welt da drinnen, außer einem: jemandem in der Welt da draußen auch nur ein Sterbenswörtchen zu erzählen über die Welt da drinnen, positive Berichte natürlich ausgenommen. Sollte jemand diese Grenze überschreiten, so würde er der Verleumdung angeklagt. Ganz ohne Gerichtsverfahren. Diese Anklage bedeutet in Kronberg den Verlust des Arbeitsplatzes und den Verlust aller sozialen Kontakte.
Und wer will schon ein solches Risiko eingehen, nur wegen so ein paar „hergelaufener Racker?“
Hier finden Sie das komplette Buch.